Georgien: Stabile makroökonomische Politik, aber eine Nation in diffiziler geopolitischer Lage
Auf einen Blick
- Bevorstehende Parlamentswahlen bei angespannter innenpolitischer Lage.
- Ein besseres Verhältnis zu Russland, jedoch zunehmend schlechtere Beziehungen zur EU seit Beschluss des Gesetzes zu „ausländischer Einflussnahme“.
- Solide Geld- und Fiskalpolitik weiterhin der Schlüssel für makroökonomische Stabilität.
- Sinkende Bruttoauslandsverschuldung, stabile Zahlungsfähigkeit.
- Liquidität aufgrund eines starken Rückgangs der Währungsreserven weiterhin unter Druck.
Pro
Contra
Präsidentin
Regierungschef
Bevölkerung
BIP pro Kopf
Einkommensgruppe
Hauptexportgüter
Bevorstehende Wahlen inmitten politischer Spannungen
Im Dezember 2023 wurde Georgien als EU-Beitrittskandidat anerkannt, unter der Bedingung, in neun Bereichen Reformen umzusetzen, darunter die Deoligarchisierung und der Abbau der politischen Polarisierung. Letztere ist eine treffende Beschreibung der aktuellen politischen Lage in Georgien. So dominiert die Regierungspartei Georgischer Traum (KO) seit ihrer Machtübernahme im Jahr 2012 das politische Feld, während die Vereinte Nationale Bewegung (ENM) des reformorientierten Expräsidenten Saakaschwili an den Rand gedrängt wurde. Die für Oktober 2024 angesetzten Parlamentswahlen finden vor angespannter politischer Kulisse statt: eine zersplitterte Opposition, tiefes Misstrauen zwischen der KO und der Opposition und eine polarisierte Gesellschaft, wie die Massenproteste gegen das Gesetz über „ausländische Einflussnahme“ gezeigt haben. Zwar kann es im Wahlkampf zu gewissen Protesten kommen, vor allem seit der jüngsten Verabschiedung eines Gesetzes, das die LGBT+-Rechte einschränkt, doch insgesamt ist mit politischer Kontinuität zu rechnen. Die institutionelle Qualität ist im Vergleich in der Region nach wie vor hoch, auch wenn Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung laut den Governance-Indikatoren der Weltbank zuletzt nachgelassen haben (siehe Grafik unten mit Daten für den Kaukasus).
Besseres Verhältnis zu Russland, Beziehungen zur EU im Niedergang
Die georgische Verfassung verlangt von der Regierung eine stärkere Integration in die EU und NATO. Bemühungen um eine EU- und NATO-Integration haben unter der aktuellen Führung jedoch nachgelassen, da diese auch die Verbindungen zu Russland und China vertiefen möchte. In letzter Zeit verbesserten sich die Beziehungen zu Russland. Seit 2008 waren diese durch die russische Invasion in Georgien und die Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens belastet. Doch nun hat Russland sowohl Direktflüge als auch die Visafreiheit für Georgier wiedereingeführt. Überdies weigern sich die georgischen Behörden, die westlichen Sanktionen gegen Russland zu unterstützen. Dadurch sind Firmen, die dazu beitragen, diese Sanktionen zu umgehen, dem Risiko von Sekundärsanktionen durch den Westen ausgesetzt. Neben Aserbaidschan, Armenien und der EU (mit der Georgien 2016 ein umfassendes Freihandelsabkommen unterzeichnete) ist Russland einer der wichtigsten Handelspartner Georgiens.
Trotz beidseitiger Frustration – auf georgischer Seite wegen des bedingten EU-Beitrittskandidaten-status und auf Seiten der EU in Bezug auf die jüngste Wiedereinführung des Gesetzes über „ausländische Einflussnahme“, das nicht mit einem EU-Beitritt vereinbar ist – bleibt die EU ein wichtiger Partner für Georgien. Sollten aber eine Abkehr von den aktuellen Trends und eine Rückkehr zum EU-Weg ausbleiben, wird sich das Verhältnis zwangsläufig weiter verschlechtern.
Georgien pflegt gute Beziehungen zu seinen Nachbarn Türkei, Armenien und Aserbaidschan. Seine geographische Lage sowie die angespannten Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan machen die Kaukasusrepublik zu einem strategischen Partner für bestehende Pipelines und die Entwicklung des Mittleren Korridors, eine direkte Handelsroute zwischen China und der EU, die Russland ausschließt.
Stabile makroökonomische Politik
In den vergangenen Jahren hat sich die makroökonomische Situation dieser offenen Volkswirtschaft verbessert: Das georgische Wirtschaftswachstum (2021-2023 durchschnittlich +9,7 %) ist ausgezeichnet. Es erholte sich vom pandemiebedingten Einbruch (reales BIP von -6,3 % im Jahr 2020) und profitierte von großen russischen Geldzuflüssen aufgrund des Krieges in der Ukraine, einem starken Tourismussektor und Investitionen. Einige dieser Faktoren sind zyklusbedingt, andere sind eher struktureller Natur, darunter die solide makroökonomische Politik. Die mittel- bis langfristige Wachstumsprognose ist mit rund 4,5 % weiterhin solide. Herausforderungen bleiben dennoch bestehen. Die Gründe sind eine schwierige geopolitische Lage, niedrige Produktivität, erhebliche Qualifikationsdefizite aufgrund eines schwachen Bildungssystems und eine schlechte Infrastruktur.
Die Regierung betreibt eine solide Geld- und Fiskalpolitik. Letztere ist recht konservativ und zielt darauf ab, die Staatsverschuldung mittelfristig bei etwa 40 % des BIP zu halten und damit unter der festgelegten Obergrenze von 60 % des BIP. In guten Phasen hielt die Regierung an einem Primärüberschuss oder einem leichten Defizit fest und konnte ggf. schnell reagieren. So wurde die Wirtschaft während der Covid-19-Pandemie gestützt, was zu einem sprunghaften Anstieg der Staatsverschuldung auf 59,6 % des BIP im Jahr 2020 führte (siehe Grafik unten, Darstellung der gesamtstaatlichen Bruttoverschuldung und der Haushaltsbilanz in % des BIP). 2023 sank die Staatsverschuldung auf 39,2 % des BIP. Diese verantwortungsvolle Fiskalpolitik wird sich voraussichtlich auch in den kommenden Jahren fortsetzen.
Die Zentralbank ergreift Maßnahmen zur Inflationssteuerung und hat ein relativ flexibles Wechselkurssystem, jedoch wurde ihre Unabhängigkeit 2023 geschwächt.
2021-2022 reagierten die Währungsbehörden schnell, um den Inflationsdruck einzudämmen. 2023 ging die Inflation jedoch stark zurück (siehe Grafik unten, Darstellung des von der Zentralbank festgelegten Refinanzierungssatzes und des Verbraucherpreisindex). Zurückzuführen ist dies auf mehrere Faktoren, darunter Zinssenkungen, niedrigere Rohstoffpreise und die Aufwertung des georgischen Lari im Jahr 2023. Seitdem steht der Lari wieder unter Druck und hat 2024 erneut an Wert verloren (siehe Wechselkursdiagramm unten; ein Anstieg bedeutet eine Abwertung).
Allmähliche Reduzierung des Leistungsbilanzdefizits
Im letzten Jahrzehnt ging das hohe Leistungsbilanzdefizit allmählich zurück, was dem wachsenden Tourismussektor und – in jüngster Vergangenheit – einem zyklischen Anstieg der Geldüberweisungen infolge der Ankunft russischer Migranten zu verdanken ist. Trotz eines erwarteten Anwachsens des Leistungsbilanzdefizits auf rund 5,5 % des BIP in diesem Jahr (siehe Grafik) ist sein relativer Rückgang ein positiver Faktor.
Das finanzielle Risiko ist aufgrund eines Rückgangs der Auslandsverschuldung in den letzten Jahren stark gesunken. Etwa die Hälfte der mittel- und langfristigen Auslandsverschuldung besteht aus Staatsschulden, vor allem bei multilateralen Gläubigern; die Privatverschuldung besteht größtenteils aus Konzerndarlehen, die das Risiko zu einem gewissen Grad abschwächen. Die Schuldendienstquote ist im Vergleich zu ihrem historischen Durchschnitt ebenfalls gesunken – wenn auch nicht auf das Niveau von 2022-2023 – und dürfte moderat bleiben. Trotz des jüngsten deutlichen Rückgangs der Währungsreserven (siehe Grafik unten) liegt die Liquidität weiterhin über dem Niveau von 2022, sollte jedoch im Auge behalten werden. Vor diesem Hintergrund liegt das kurzfristige politische Risiko bei 4/7 mit negativer Tendenz; jeder weitere wesentliche Rückgang der Bruttowährungsreserven kann zu einer Verschlechterung in Bezug auf das kurzfristige politische Risiko führen.
Stabile Prognose für mittel- bis langfristiges politisches Risikorating
Der Drahtseilakt zwischen weitergehender EU-Integration, besseren Beziehungen zu Russland und stärkeren Verbindungen zu China verdeutlicht die schwierige geopolitische Situation, in der sich die Kaukasusrepublik befindet. Angesichts eines sukzessiven Abbaus der Auslandsverschuldung und der Schuldendienstindikatoren sowie eines rückläufigen Leistungsbilanzdefizits hat Credendo seine Bewertung des mittel- bis langfristigen politischen Risikos auf die Kategorie 5 verbessert. Überdies ist die Verpflichtung zu einer verantwortungsvollen Fiskalpolitik und Inflationssteuerung eine wichtige Stütze für makroökonomische Stabilität, die voraussichtlich erhalten bleibt.
Analystin: Pascaline della Faille - P.dellaFaille@credendo.com